TEIL ZWEI WIEDERAUFNAHME
46
Die Ellbogen auf mein Pult gestützt, blickte ich auf die einundzwanzig erstaunlich blasierten und mit übertriebenem Selbstvertrauen gesegneten Jurastudenten im ersten Semester.
»Kann mir jemand sagen, warum es einem Ermittlungsbeamten per Gesetz erlaubt ist, während der Ermittlungen zu täuschen, auch wenn er sich der Schuld des Verdächtigen nicht sicher ist, er aber während des Prozesses nicht lügen darf, auch wenn er sich absolut sicher ist, dass der Verdächtige die Tat verübt hat?«
Fünf Monate waren vergangen. Ich hatte eine längere Auszeit vom FBI genommen und unterrichtete seit Januar Kriminalethik am John Jay College of Criminal Justice.
Eine Auszeit. Ich tat alles Erdenkliche, nur um irgendwie durchzuhalten. Ich war nicht sicher, ob ich jemals wieder zurückgehen würde, zumindest nicht zur C-10, nachdem ich Cavello in seiner Zelle zusammengeschlagen hatte. Aber wem wollte ich eigentlich was beweisen? Es ging um mehr als das. Um viel mehr. Das Schwein hatte Recht gehabt. Seit dem Tag war mir das Bild von Jarrods Gesicht im Bus nicht mehr aus dem Kopf gegangen.
Eine Studentin in der zweiten Reihe hob die Hand. »Es ist ein Mittel zum Zweck«, antwortete sie. »Das Mapp-Gesetz und das Gerichtsurteil im Prozess Vereinigte Staaten gegen Russell erlauben der Polizei, täuschende Verfahren zur Beweisfindung zu nutzen. Ohne diese Möglichkeit könnte es sein, dass es die Ermittlungen nie bis vors Gericht schaffen. Die Täuschung dient einem weiterführenden Ziel.«
»Okay.« Ich nickte und erhob mich, um ein bisschen umherzulaufen.»Aber was ist, wenn die Polizei beim Prozess zu
diesen Vorgängen lügen muss – um den Fall zu schützen?«
In der hinteren Reihe bemerkte ich etwas, das mich ärgerte. Einer
der Burschen schien weit mehr an einer Zeitung interessiert zu
sein, die er in seinem Lehrbuch versteckt hielt, als an mir. »Mr.
Pearlman«, machte ich mit lauter Stimme auf mich aufmerksam, »wären
Sie bereit, zu dem Thema etwas beizutragen?«
Er hantierte mit seinem Lehrbuch herum. »Ja, klar, kein
Problem.«
Ich trat an seinen Tisch und nahm die Zeitung an mich. »Mr.
Pearlman prüft lieber seine Aktienwerte, während der vierte
Zusatzartikel zur Verfassung unter Beschuss steht. Ich hoffe für
Ihre zukünftigen Mandanten, Mr. Pearlman, dass Ihre Familie eine
nette Kanzlei für Musik- oder Erotikrechte oder dergleichen hat, in
die Sie einsteigen können.«
Einige seiner Kommilitonen kicherten verhalten.
Aber ein bisschen schämte ich mich für meinen Auftritt, weil ich
mir vorkam wie einer dieser tyrannischen Lehrer, die sich daran
aufgeilen, wenn sie Macht über ihre Schüler ausüben können. So war
ich eigentlich gar nicht. Ein paar Monate zuvor hatte ich den
bekanntesten Verbrecher im Lande schikaniert, jetzt war es
irgendein junger Jurastudent. Meine Güte, Nick!
Ich versuchte es mit der Friedenstaube. »Also, Mr. Pearlman, was
genau besagt die Ausschließungsregel und in welchem Fall vor dem
Obersten Gerichtshof wurde sie als verbindlich
bestätigt?«
»Sie besagt, dass in gesetzwidriger Weise erlangte Beweismittel von
der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren nicht benutzt werden
dürfen. Mapp gegen Ohio, Sir. U.S. 643. 1961.«
»Gut geraten.« Ich grinste und schob die Zeitung unter meinen Arm.
»Ich habe auch Aktien.«
Kurz darauf ertönte die Glocke. Ein paar Studenten kamen zu mir, um
eine Arbeit durchzusprechen oder sich wegen einer Note zu
beschweren. Und auf einmal saß ich ganz allein in einem leeren
Klassenzimmer.
Du lügst dich schon wieder an, Nick. Du versuchst wegzulaufen, aber
du bist nicht schnell genug, dachte ich. Es ging nicht darum, im
Unterricht gut dazustehen. Auch nicht um den vierten
Verfassungszusatz oder um Ermittlungsmethoden. Es ging noch nicht
einmal um diese verschlossene, dunkle Ecke des Universums, in die
ich mich hatte hineintreiben lassen, um so zu tun, als begänne ich
ein neues Leben.
Nein. Ich drehte die Zeitung auf meinem Schreibtisch um und starrte
auf die Überschrift. Es war genau die, auf die ich die vergangenen
fünf Monate gewartet hatte.
DER PATE, TEIL 2. In dicken, fetten Buchstaben.
Nicht zu Ende gebrachte Angelegenheiten – um das ging es. Cavellos
Prozess sollte in der kommenden Woche wieder aufgenommen
werden.